Schwarze Pferde
Da ist ein Teil in mir, der ist mir unbekannt und dennoch finde ich mich immer wieder darin. Nur schwarze Pferde sind fähig mich dorthin zu begleiten, zu dem Anfang eines Weges.
Vor mir liegt ein schwarzer langer Weg mit schwarzen bodenlangen Vorhängen – der schwarze Samt wird nur durch das Fehlen des Lichtes erhellt. Am Rand des Wegs, dutzende mich anlächelnde Gesichter. So viele Begegnungen meines Lebens. Einen Fuß vor den anderen, und den anderen vor den anderen. Mein Blick ist in Richtung Boden gesenkt. Einen Fuß vor noch einen Fuß. Mich dem Laufen hingeben, weil das Ziel nicht zu erahnen ist – zu weit ist – als dass es dem Verstand als Ziel dient, einfach zu schmerzhaft ist. Mein Puls wird schneller, wenn der Blick es wagt nach links oder nach rechts aufzuschauen. Diese Augen, die wissen, dass du weißt – und dieses zarte Lächeln.
Das Lächeln der Dame aus dem Bus erwartet mich beim Aufschauen als allererstes. Ich bot ihr vor Jahren einen Sitzplatz an, sie reichte mir mit eben diesem Lächeln, das dafür bestimmt war, sich ab diesem Moment für immer in mein Gedächtnis einzubrennen, einen selbst gehäkelten, kleinen Weihnachtsbaumanhänger. Sie sagte sie häkle das ganze Jahr über, um die Anhänger dann an nette Menschen zu verschenken. Sie sei ganz allein, aber so sei sie überall in der Stadt verteilt und nicht einsam. Das Lächeln behielt sie tapfer und ehrlich das ganze Gespräch über.
Das Lächeln der Straßenzeitungsverkäuferin in der U-Bahn: Es war ihr erster Versuch, die eingeübte Verkaufsrede zu halten. Sie stellte sich selbstbewusst in die Mitte des Waggons. Sprach mit starker Stimme und starren Gesichtszügen ihre ersten Worte. Keiner schaute auf, keiner nahm sie wahr. Ihre Stimme fing an zu zittern, wurde immer leiser und brach ab. Sie stellte sich an die Tür und wartete ungeduldig bis sie aussteigen konnte, und stürmte hinaus. Ihr Gesicht hielt sie in den Händen, die Zeitungen zusätzlich davor. Ich ging am Bahnsteig auf sie zu, und sagte ich wolle eine Zeitung kaufen. Sie schaute auf, trocknete mit einem Wisch die Tränen, nannte mir den Preis, übergab mir mit gewollt ruhiger Hand die Zeitung, und dankte mit ihrem eigenen, wissenden Lächeln.
Ich schaue nach links. Das Lächeln des Mannes, der auf einer Einkaufsstraße wie im Slalom um die Tauben herumlief. Er wollte ihnen den Vortritt gewähren, um sie nicht noch weiter aufzuscheuchen, wie es alle anderen Menschen schon tun.
Die Brust wird bei jedem weiteren Schritt immer weiter zugeschnürt, als würde ein Zentner Blei auf der Brust liegen. Aber nein, der Kopf hebt sich erneut und erblickt das nächste.
Das Lächeln des kleinen Mädchens, das mir erzählte, sie kaufe immer kaputte Spielsachen und Kuscheltiere, weil sie sonst niemand kaufen und liebhaben wird, wenn sie es nicht tut. Nach diesen Worten wechselte ihr Lächeln zu einem der traurigsten, das ich jemals sah. Sie verstand von der Welt schon zu viel für ihr Alter.
Der Mann, der mir erzählte, er setze sich am liebsten lange auf einen Sitz in der U-Bahn, um ihn aufzuwärmen, damit er sich vorstellen kann, dass jemand der Wärme und Nähe braucht, diese durch den erwärmten U-Bahnsitz erhält. Dieses gütige und verschämte Lächeln, weil er sich seiner Kuriosität bewusst war. Aber wohin nur mit der Liebe die keiner will? Sein Lächeln – auf ewig eingebrannt.
Ich bleibe stehen. Mein Körper kann nicht weiter. Ich bin an meinem Ende des langen schwarzen Weges angelangt. Von beiden Seiten lächeln mich vom schwarzen Samt aus, noch dutzende Gesichter an, hunderte von Metern links und rechts. Die schwarzen Pferde erscheinen nun wieder vor mir und ziehen an mir. Das Zentner Blei auf der Brust drückt unbeschreiblich schwer, sie ziehen mich tiefer und tiefer, in das schwarze Loch hinein. – Die Gesichter Lächeln mich noch unverändert an.
Loslassen, Aufatmen und sich der Wärme hingeben. Das Fell meiner schwarzen Pferde wechselt langsam zu Licht, je mehr die Wärme siegt. Das Schwarz um mich herum hellt sich immer weiter auf. Ich falle langsamer, bis das Licht meinen Sturz weich auffängt. Meine Handfläche gleitet zaghaft über das schwarze Fell und ich spüre einzig und allein Wärme. Ich befinde mich nun ganz im Licht, das all die Lächeln dieser Welt auf einmal miteinander vereint, das sich wie eine Hülle über alles legt, wie die warme, unendliche Umarmung eines Liebenden.
Scarlett Rybarczyk
Leave a Reply