Unverständnis

Ich saß als kleines Mädchen auf dem Fußboden vor durcheinander liegenden alten Fotografien. Ich hörte der mir gut bekannten Stimme meiner Mutter zu und versuchte ihre Worte zu verstehen. Die Bedeutung ihrer Worte zu verstehen. Ich hörte ihr zu und verstand nichts von dieser, meiner Mutter viel zu gut bekannten, Zeit. Wir sitzen nun auf deutschem Boden aber die vor mir liegenden Fotografien wurden auf polnischem aufgenommen. In einer Zeit des Sozialismus, des Hungers, der Hungerslöhne, Lebens-und Gesundheitsgefährdenden Arbeitsverhältnissen, Lebensmittelkarten, einer Regierung die ihren Insassen leere Worte und leere Teller zu geben hatte, einer Regierung, die ihr Land abgeschottet hat, vor jeglichem Fremden zu schützen geglaubt hat. Sie erzählt von ihren Eltern, die abwechselnd Tag und Nachtschichten schoben in einer Schuhfabrik und im Bergbau – die Kinder in der Schule. Kein Spielen und Hausaufgaben machen, denn nach den Pflichten kommen die echten Pflichten. In die Schlange eines Lebensmittelladens stellen, um die Mutter von der Nachtschicht abzulösen, um dann abends wiederrum vom Vater abgelöst zu werden, der von der Tagesschicht kommt, um dann doch nur noch Butter und Mehl zu erhalten. In der Kälte stehend und sich nach warmen Brot sehnend.

Die Enttäuschung, die Wut, das Unverständnis und die Machtlosigkeit brachte sie in ihren gesprochenen erinnernden Zeilen viel zu gut rüber. Ihre Flucht mit einem ihr fast unbekannten Mann, den sie in der kurzen Zeit zu lieben geschafft hat. Sie – deutsche Papiere und ein Bett im Flüchtlingsheim, Er – illegal mit gekaufter Urlaubsgenehmigung. Beide 23 Jahre alt, jeweils 50 DM, Tickets nach West Berlin und die bloße Hoffnung auf ein besseres Leben. Die bloße Hoffnung auf Perspektiven. Weitere Zeilen über die Vorurteile, die Probleme eine Stelle als „nur“ Putzfrau zu finden. Die Probleme auf Vertrauen zu treffen. Der Reichtum vor der Nase tänzelnd und die Nase an die vollen Schaufenster gedrückt, wie sich der Mund mit Speichel füllte, so lebhaft erzählt, dass auch mir das Wasser im Mund floss. Aber nein, kein Geld für die unbekannten deutschen Köstlichkeiten. Aber ihr Magen, wie sie sagt, wurde mit Hoffnung gefüllt. Mit der Hoffnung auf ein besseres Leben für sie und meine Schwester in ihr.

Alle Zeilen tief eingebrannt beim Erzähler, wie auch beim Zuhörer. Meine Eltern mit ihrer schwierigen Vergangenheit – Meine Eltern die Flüchtlinge — jetzt – gegen Geflüchtete. Wie? Wie kann das nur sein? Damals waren sie die Unterdrückten – jetzt sind sie die Unterdrücker.

Sie lernten in Polen die eiserne Faust der Ideologie zu hassen – Jetzt lernen sie die Hass Ideologie zu lieben.

Wieso sollen die Flüchtlinge einen einfacheren Start ins neue Leben erhalten, als sie es hatten? Wieso müssen sie heute nicht mehr so viel liefern um bleiben zu können? Wieso müssen sie nicht so viel ertragen, was sie selbst ertragen mussten? Wieviel Wut, Hass und Frustration muss in meinen Eltern sein um solch eine Definition von Gerechtigkeit aufrechtzuerhalten? Aber auch das sind nur Versuche für eine Erklärung zum Verständnis der Unverständnis.

Ich merke wie sich der Blick des kleinen Mädchens auf ihre Mutter ändert. Die Bewunderung den Mut und die Kraft aufgebracht zu haben solche Schritte vorzunehmen ändert sich in Wut, Kraftlosigkeit, Unverständnis, Widerwillen und Machtlosigkeit. Wenn ein Mensch der selbst ähnliches durchgemacht hat, alle als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnet, obwohl man selbst einer war? Wenn ein geflüchteter Mensch das „Eigene“ vor dem Fremden verteidigen will, obwohl das nicht mal sein eigenes ist? Wenn es das Eigene überhaupt gibt! Wenn Fremdenhass normal ist, obwohl man selbst fremd ist? Wenn sie die Abschottungspolitik befürworten und feiern, obwohl sie sie einst selbst davor geflohen sind?

Dann hoffe ich sehr, dass diese Menschen, jeder einzelne von ihnen, irgendwann wenn sie all das begreifen, ohne puren Selbsthass in den Spiegel schauen können! Dass meine Mutter in den Spiegel schauen werden kann! Ich hoffe, dass all diese Menschen ihren Hass im Herzen verlieren können und die Angst zu Mitgefühl wechselt. 

Ich hoffe sehr, dass die Scham nicht zu groß sein wird und man nicht bewusst auf sich selbst kotzt! Wie können sie es nicht hinbekommen den Spiegel, der ihnen vor ihr Gesicht gehalten wird nicht zu erkennen? Oder eben nicht erkennen zu wollen.

Verständnis für Unverständnis, Toleranz für Intoleranz sind an diesem Punkt der gegenwärtigen Zeit nicht mehr aufzubringen.

Scarlett Rybarczyk

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