Entzug
Ich hatte mich einliefern lassen, denn ich wusste, so würde es nicht weitergehen. Alles fühlte sich verschoben und verkehrt an, so als würde man auf Moos treten, welches in den Fuß sticht oder ins Meer greifen und das Feuer spüren. Sicherlich hätten mir noch etliche Jahre zugestanden, aber wollte ich sie so leben? War ich überhaupt am Leben oder wie definiert man dieses Ding, das wir so ganz selbstverständlich durchschreiten, während wir es Stück für Stück verlernen.
Ich habe früh gelernt mit einem Ball auf einen Korb zu werfen und obwohl ich einen sehr hinderlichen Sehfehler habe, traf ich ihn oft, nicht selten sogar ohne wirklich hinzuschauen. Ähnlich ging es mir beim Billard. Als ich mit 18 Jahren das erste Mal an einem Tisch stand, fühlte sich alles nicht so richtig an und die weiße Kugel tat nicht, was ich ihr angedacht hatte. Einige Jahre spielte ich dieses Spiel mit Wohlgefühl und Hingabe. Schlecht wurde ich erst, wenn ich mir Zeit ließ. Dann traf ich den Korb nicht und die Kugeln auf dem Tisch trafen sich nicht an den Punkten, die ich zuvor anvisiert hatte. Wenn ich mir zu viel Zeit nahm, kamen die Stimmen des Zweifels in mir auf und ihr Flüstern ist das lauteste und tiefste Geräusch, das ich mir vorstellen kann. Wenn ich ganz ehrlich bin, dann geht es mir beim Schreiben ebenso, doch ich bin nicht schnell genug, um meine Gedanken ganz und gar einzufangen, wenn sie erst einmal in Fluss geraten. Ich schreibe dann einfach drauf los und hoffe, dass ich das Meiste aufnehmen kann. Wenn ich voll in meinem Element bin, kann keine Stimme und kein Mensch mich abbringen. Es braucht keine Zigarette, keinen Drink, keine Droge: Ich bin schon high.
Dies sind die Momente, in denen ich das Leben spüre. Dies sind die Momente, für die ich zuvor geübt habe. Dies sind die Momente voller Euphorie.
Doch diese Momente sind seltener geworden. Die Übung ist weniger geworden. Die Euphorie spüre ich nur selten. Deswegen hatte ich mich einweisen lassen. Der Arzt blickte mich über seine vorgerückte Brille fragend an und schüttelte den Kopf. Er sah meine Tränen und wollte mich einer Form von Depression zuordnen, denn er verstand nicht. Er verstand meinen Wunsch auf Entzug vom alltäglichen Arbeitsleben nicht. Er hielt mich womöglich für verrückt, weil er einfach nicht verstand, dass außerhalb dieser 5×8 großen Mauern noch das Leben wartete; er war ja selbst gefangen. Und Gefangene halten einander fest und ziehen sich zurück. Vielleicht aus Angst allein zurück zu bleiben oder aus Angst vor der Freiheit, weil diese nicht zu greifen ist und Gefahren birgt. Als ich seine Absichten erkannte, stand ich auf und ging.
Steffen Gärtner
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