Eine Begegnung unter Bäumen
Sie machte einen Ausfallschritt, als sie über den Ast stolperte, der auf dem Feldweg lag. Ihre Kapuze rutschte ihr über die Augen und als sie den Arm hob um sie wieder zurecht zu rücken merkte sie wieder das Gewicht ihres Rucksacks, welches die Riemen unangenehm in ihre Schultern schneiden ließ. Neben ihr lief Mia, ihre sechsjährige Schwester. Sie hatte sich zum Schutz gegen den andauernden Nieselregen die Kapuze so fest zugeschnürt, dass sie kaum etwas sehen konnte. Etwa 10 Meter vor ihnen sah sie im Nebel ihre Eltern und ihren älteren Bruder Paul. Sie liefen wortlos nebeneinander her, ihre Eltern gebeugt unter den schweren Rucksäcken, die sie ihrerseits trugen.
Sie waren seit etwa zehn Tagen unterwegs, oder waren es doch schon zwölf? Anika versuchte sich zu erinnern. Die meisten Nächte hatten sie in Scheunen von Bauernhöfen geschlafen, die ihnen die meist freundlichen Bauern anboten. Sie aßen trockene Kekse, Obst oder die Suppe, die die Bäuerinnen ihnen in die Scheunen brachten, während sie im klammen Heu saßen. Einmal hatten sie für die Nacht keinen Unterschlupf finden können und hatten in einem Wald unter Tannen geschlafen. Zum Glück hatte ihr Vater an die guten Schlafsäcke gedacht, sonst hätten sie sicher noch mehr gefroren. Die Schlafsäcke stammten noch aus der Zeit, in der sie oft in den Ferien und an den Wochenenden Zelten waren. Diese Urlaube schienen nun fast aus einem anderen Leben zu sein, soviel war in der Zwischenzeit passiert.
„Ich kann nicht mehr!“ jammerte Mia plötzlich und riss Anika damit aus ihren Gedanken. „Ich will mich hier hinsetzen!“ Ihr Vater drehte sich um und kam zu den beiden Mädchen. „Ich weiß, mein Schatz“ sagt er und nahm Mia an die Hand. „Nur noch bis dort hinten zu den Bäumen, da machen wir dann eine Pause. Hier ist es zu unsicher um stehen zu bleiben.“ Er schaute sich um und warf einen kurzen besorgten Blick in den grauen Himmel. Mia fing an zu weinen und ihr Vater zog sie langsam mit sich mit. Anika ging hinterher und schloss so mit den anderen der kleinen Gruppe auf. Nun ging sie zwischen ihrer Mutter und Paul, der eine Karte in den Händen hielt, die er im Gehen studierte. „Wo sind wir?“ frug sie ihn. „Wir müssten nun in der Nähe von Bielefeld sein“ murmelte er, ohne den Blick von der Karte zu nehmen.
Bielefeld. Anika hatte schon viele Städte in Deutschland gesehen, aber in Bielefeld war sie noch nie gewesen. Und auch jetzt würde sie nicht viel von der Stadt sehen, ihr Vater mied die großen Städte, zu gefährlich sei es dort. Er war sehr vorsichtig geworden in den letzten Monaten. Sie kannte ihn sonst nur als den Abenteurer, der offen und mutig in die Welt blickte und jedem Menschen, egal woher, mit einem Lächeln begegnete. Nun waren seine Lachfältchen tiefen Sorgenfalten gewichen, die sich auf seiner Stirn gebildet hatten. Sein sonst so leichter und aufrechter Gang war einem gebeugten Schlurfen gewichen. Anika beobachtete ihn mit Sorge und Angst, denn wenn ihr Vater Furcht vor etwas hatte, dann musste dies wirklich richtig gefährlich sein.
Ihre Mutter hingegen war noch stets positiv und versuchte jeder Situation etwas Gutes abzugewinnen. Das war manchmal etwas anstrengend, da Anika sich in manchen Momenten nicht traute zu zeigen wie traurig oder ängstlich sie war, weil ihre Mutter so viel Energie dafür verwendete diese Reise für ihre Kinder erträglich zu machen. So wurde die wässrige Suppe der Bäuerin gestern Abend zum Festessen deklariert, das Schlafen im Heu zum Abenteuerurlaub und dank des Regens müssten sie sich keine Sorgen machen, dass sie anfangen würden zu stinken. Anika bewunderte ihre Mutter wie sie wirklich jeder unerträglichen Situation etwas Gutes abgewinnen konnte. Oder jedenfalls so tun konnte als ob. Aber irgendwie half es auch, jedenfalls gab es ihnen Mut.
Fast hatten sie die kleine Baumgruppe erreicht und Anika freute sich, sich hinsetzen, vielleicht sogar die Schuhe ausziehen zu können. Als sie unter das Blätterdach traten sahen sie, dass sich dort schon eine andere Gruppe Menschen untergestellt hatte. Es waren etwa acht Personen. Ein Mann warf gerade etwas Holz auf ein kleines Feuer, zwei Kinder saßen an einen Baum gelehnt und schliefen, eine Frau schnitt einen Laib Brot in Scheiben. Alle hielten inne und schauten in ihre Richtung als sie dort ankamen. Anika erschrak ein wenig, Mia versteckte sich hinter ihrem Vater und Paul ließ die Karte sinken. Für eine kurze Weile waren alle still und starrten einander an. Anikas Vater hob vorsichtig die Hand zum Gruß, als der Mann am Feuer seinen Leuten zurief: „Alles Okay, das sind nur Zivilisten“ und dann in ihre Richtung sagte „Kommen sie nur, hier ist noch Platz am Feuer.“ Anikas Mutter war die erste, die einen Schritt vorwärts machte und die anderen folgten ihr. Sie stellten ihre Rucksäcke ab und hielten ihre kalten Hände über das kleine Feuer. „Willkommen“, sagte der Mann am Feuer. „Wo kommt ihr her und wo geht‘s hin?“. „Potsdam“, sagte Anikas Vater, „und wir sind auf dem Weg nach Irland.“ „Potsdam!“ sagte der Mann erstaunt, „Na ihr habt’s aber lange ausgehalten. Wir sind aus der Nähe von Leipzig, auf dem Weg nach Nord-Holland. Auf dem Dorf ging es bis vor kurzem noch, aber irgendwann ist es eben doch genug…“. Anika schaute ihren Vater an, der verständnisvoll mit dem Kopf nickte. „Ja“, sagte er, „irgendwann ist es einfach zu viel.“
Anika hörte einen Zweig auf dem Boden hinter ihr knacken und drehte sich um. Da stand ein Mädchen, etwa in ihrem Alter, mit einem blonden Lockenkopf, fast wie Mia, und leuchtenden blauen Augen. „Hi!“ sagte das Mädchen, „Ich bin Lotta! Seid ihr auch Flüchtlinge?“. Flüchtlinge…Anika sprach das Wort langsam in ihrem Kopf aus. Sie kannte diesen Begriff bisher nur aus dem Fernsehen. Aber ja, das waren sie wohl nun, seit zehn Tagen oder zwölf. Flüchtlinge, die ihr Zuhause verlassen hatten, weil es dort nicht mehr sicher war und die nun zu Fuß versuchten auf die Insel namens Irland zu kommen, wo die Schwägerin einer Tante wohnte, die Anika nicht kannte. Dort wollten sie warten, bis das Leben in Deutschland wieder sicher war. Bis sie wieder nach Hause kommen konnten. Anika nickte langsam und sprach leise die Worte, die von nun an ihre Identität ausmachen würden. „Ja, wir sind auch Flüchtlinge.“
Janina Weser
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