Die Blasen meines Lebens
Ich werde oft gefragt, ob ich mich noch an die Zeit vor der Wende erinnern könnte. Das kann ich nicht wirklich, denn ich war ein wenig zu jung. Es gibt einige Erinnerungsfetzen, wie zum Beispiel der Hausmeister unseres Blocks, der mich in seiner Wohnung durch die Luft wirbelte, so dass ich das Kaugummi verlor und es vermutlich irgendwann mal in seinem Teppich wieder auftauchte. Mich hat das damals gewurmt, weil ich es nicht fand und wieder aufheben konnte. Als ich später verstand, dass Hausmeister die Hausspitzel der SED waren, hatte ich mein Schuldgefühl abgelegt. Ich erinnere mich daran, dass man gewisse Möbelstücke immer wieder sah, weil es keine endlos scheinende Auswahl gab. Und eines weiß ich auch sehr genau. Im Fernsehen lief Werbung von Spielzeug, dass ich nicht haben konnte, bis eines Tages meine Eltern mit drei großen Kartons LEGO heimkamen. Ich habe sie nie gefragt, aber mir ist mittlerweile klar, dass das kurz nach der Wende gewesen sein muss und sie mitbrachten, was ich mir die Jahre zuvor so sehr gewünscht hatte. Die kleine Blase des undemokratischen Staates zerplatzte, weil die Menschen, die dort lebten sich wünschten, was sie nicht haben durften. Welch ein Glück hatten wir, dass das so friedlich ablief.
Ich wuchs in einer neuen Blase auf, die platzte, als ich älter wurde und auszog: Ich kannte keine Gewalt und auch keinen Missbrauch. Als mir meine Freundin mit 19 oder 20 erzählte, wie sie von ihrer Mutter behandelt wurde, verstand ich es nicht richtig. Ich lebte zwei Jahre in zwei verschiedenen Städten und wurde einsam. Ich brauchte dieses Herausfallen aus meinem bisherigen Leben. Ich verlor meine Selbstsicherheit, die mich zu Schulzeiten noch dazu brachte, komplett in weiß durch die Stadt zu marschieren, während die Masse als Emo und schwarzgekleidet herumschlürfte. Ich lernte eine dunkle Seite in mir selbst kennen, die nicht glücklich sein wollte oder konnte. Mit mir selbst zu leiden führte aber dazu, dass ich Menschen anders begegnete und ich erinnere mich an ein Gespräch mit 25 Jahren, als eine Freundin davon anfing zu erzählen, wie der alte Nachbar immer auf sie aufpasste und sie nicht verstand, was genau da alles passiert sei. Das verstand sie erst, als sie ihren ersten Freund hatte und dieser Dinge mit ihr machte, die sie damals mit jenem Nachbarn auch getan hatte. Ich hörte ihr zu und saß verzweifelt da. Es folgten weitere Gespräche mit anderen Freundinnen und die Blase platzte, dass so etwas ja eigentlich nie vorkommt.
Mein friedliches Leben in meiner Jugend führte dazu, dass so vieles fernab von mir passierte. Als ich vor ein paar Jahren mit einem Freund im VW Bus reiste, genoss ich die Reise. Wir fuhren jeden Tag auf einer sich am Ufer entlangschlängelnden Straße und ich sah antike Bauwerke. Wir bereisten ein wunderschönes Land. An einem Tag verließen wir die Straße am Meer und fuhren an einem zerfallenen Haus vorbei, das zum Verkauf stand. In weißer Farbe standen die Buchstaben UN an der Häuserwand. Im nächsten Dorf sah ich Häuser, die Einschusslöcher aufwiesen. Auch wenn der Krieg 15 Jahre her war, so waren die Narben des Landes Kroatien noch immer sichtbar. Die Strecke von diesen Häusern bis zu uns hätte man wohl in 12 Stunden fahren können, wenn man die entsprechenden Schnellstraßen nimmt. Also nur ein halber Tag. So nah waren die Gewalt und der Tod also in meiner Jugend entfernt gewesen. Und heute gibt es keinen Ort auf dieser Welt, den ich dank eines Flugzeuges nicht ähnlich schnell erreichen könnte. Der Krieg, der immer so weit entfernt scheint und so unwirklich ist. Er wurde mir damals in Kroatien das erste Mal wirklich bewusst, denn er fand vor meiner Haustür statt, während ich in der Schule saß oder meine Zeit in Chats im Internet verbrachte.
Diese drei Blasen zerplatzen in meinem Leben und es gab noch einige andere. Es werden weitere platzen, damit rechne ich fest. Aber ich fürchte mich nicht davor. Ganz im Gegenteil, sie werden selbst auf ihre grässliche Weise mein Leben bereichern.
Steffen Gärtner
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