Der Friedhof der einsamen Socke

Masse. Das was ich gelegentlich in meinem Physikunterricht zu Ohren bekam, fiel mir ein, als ich meine Wohnung betrat.

Ich öffnete einen Küchenschrank und es fielen mir 30 Tupperdosen entgegen. Selbst die ohne Deckel hatte ich behalten. Ich habe auch eine kleine Friedhofssammlung an Single-Socken. Ich, Single, 35, weigere mich Socken ohne Partner und Tupperdosen ohne Deckel wegzuschmeißen. Sonst hätte ich mich ja schon längst selbst entsorgen müssen.

Ich benutzte sie einfach zweckfremd. Tupperdosen als Schüsseln, Socken als… ach halt als „Friedhof der einsamen Socke.“ auf meiner Wäscheleine.

Ich behalte Dinge, denn „man weiß ja nie“. Da ganze Jahr laufe ich mit einem Regenschirm im Rucksack herum. Selbst bei 38 Grad Hitze, denn es könnte ja ein Sommerregen einsetzen. Für den Fall der Fälle, habe ich einen Lippenbalsam dabei, den ich NIE benutzt habe und der bestimmt schon das MHD um mehrere Jahre überschritten hat. Über die anderen Gegenstände in meiner Tasche kann ich nur sagen: Ich könnte mit meiner Tasche spontan das Land verlassen und ÜBERLEBEN.

Ich besitze eine Radlerhose, so richtig mit Polster zwischen den Oberschenkeln, die ich falls ich mich dazu entscheide urplötzlich Profiradlerin zu werden, irgendwo rauskramen und meine Karriere beginnen könnte. Ich habe sie einmal angezogen, als sie ankam. Nicht. sehr. schmeichelhaft. Ich sehe damit aus wie ein gewindeltes Riesenbaby, das die Tour-De-France bestreiten will.

Ich habe auch drei Streamingdienste abonniert, besitze zahlreiche Schuhe, Stiefel und Klamotten. Habe gleich mehrere Rentenversicherungen abgeschlossen, falls ich mein Leben überlebe bis zur Rente.

Dabei wünschte ich mir noch so viele andere Dinge, bei denen ich mehrere Versionen bräuchte.

Mehrere Leben zum Beispiel. Wenn ich in einer Lebensspanne einen gravierenden Fehler mache, könnte  ich in ein Nebenleben hüpfen und dort weitermachen. Oder mehrere Körper. Wenn der eine kränkelt oder zu dick ist würde ich mich gerne in einen anderen Körper zurückziehen – Handeln davon nicht auch viele Bücher Seelenwanderung? Ich hätte gerne ein Single-Ich und ein Beziehungs-Ich. Die Freiheiten und Unabhängigkeiten von der taffen Einzelgängerin UND dann

Ich hätte auch gerne mehrere Eltern, mehrere Lieben im Leben, damit sie austauschbar bleiben und ich, wenn ich jemanden verliere, nicht alleine dastehe.  Ist das der Grund warum Polygamie für manche so attraktiv ist? Quantität ist aber nicht Qualität in jeder Hinsicht.

Und dennoch wollen wir einfach von allem mehr. Ich weiß, dass Menschen, die mehr haben wirklich diejenigen sind, die entweder zu viel Geld haben (da gehöre ich nicht dazu) oder verunsichert sind bzw. Kontrollfreaks sind. Ich schließe mich da nicht aus. Die wenn-dann-Rechnung bezahlt man schlussendlich aber damit, dass man von Tupperwaren begraben seine „Für-Alle-Fälle-Vollgestopfte“ Tasche mit supertrockenen Lippen an sich drückt und sich so fühlt als wäre man in der Vorstufe zum Messy-Dasein.

Das Paradoxe: Gleichzeitig stehen wir selbst, im Gegensatz zu dem üppigen Besitz den wir haben und anstreben, da und möchten NICHT austauschbar sein, die einzigen, individuell. Das macht auch unseren Wert aus – unsere Einzigartigkeit. Eine Funda, einen Mohammed, eine Hilde mit dem SELBEN Gedankengut findet man nirgends auf der Welt. Sie sind uns teuer. Jeder Mensch ist ein Diamant und wurde einzigartig geschliffen vom Leben.

Vielleicht deshalb verlieren meine Tupperwaren und meine Massen an anderen Waren auch ihren Wert für mich, was mich betrübt. Und schon entsteht eine Lücke, die Weihnachtsgeschäfte, Black Fridays, Räumungsverkäufe stopfen wollen. Ungestopft und unangetastet bleiben aber meine metaphorischen einsamen Socken, sie hängen dort bis ich keine Einsamkeit mehr verspüre oder meine Waschmaschine aufhört einzelne Socken zu fressen.

Funda Doğhan

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