Schauspiel, Psychose und Liebe

„Wir alle sind Schauspieler im Leben“, sagte mein Professor in der ersten Vorlesung zum Thema Identität.
Mit solchen Sätzen sichert man sich definitiv  die Aufmerksamkeit von durch graue Theorie gelangweilte Studenten. Am liebsten hätte ich „Fake news“ ausgerufen?
Nicht nur das: Plötzlich kommt in mir das Bedürfnis auf, mich zu rechtfertigen.
Wie eine Gewitterwolke macht sich in mir und dem Seminarsaal Missmut und Widerwillen breit. Ja will er uns jetzt allen sagen, wir würden lügen? Dass wir nicht echt sind?

Ja und auch irgendwie nein.

Ich weiß jetzt, was er meinte: Das Leben ist nun mal nicht so einfach. Wir verhalten uns nicht überall gleich. Je nach Situation, Tagesform, Vorerfahrung und Systemen in denn wir unser Leben leben, erfolgt auch die Reaktion.

In der HipHop-Szene heißt es wie ein Mantra immer „keep it real“. Aber ist man real wenn man im Bus furzt, weil einem einfach danach ist?
Ist man denn real, wenn man mit Jogginghose und Schlabbershirt zur Arbeit geht?
Und was sagt deine Mutter zu deinem „Real“ sein, wenn du ihr Essen zum Mittag verschmähst und dich an den Familientisch mit einem Döner von Alis Kebapbude nebenan setzt? Wird sie nicht enttäuscht sein und sich zurückgewiesen fühlen? Ein türkisches Sprichwort sagt es schon richtig: “Hatır için çiğ tavuk yenir.” Übersetzt: „Aus Liebe und um zu gefallen, sind wir fähig rohes Hühnchen zu essen.“ Für mich als Vegetarierin keine Option. Aber für mich als Türkin und als jemand, der gerne geliebt werden will durchaus reizvoll.

Ich erinnere mich in Bezug auf „echt sein“ auch, wie bewusst „deutsch“ – für mich bedeutet das korrekt – ich mich verhielt, als die Polizei mich am helllichten Tag kontrollierte. „Ja. Ja klar. Natürlich habe ich ein Warndreieck. Sicherheit geht vor.“ Als ich Freunden davon erzählte klang das anders: „Gott sei Dank hatte mein Vater noch ein Warndreieck in meinen Kofferraum geworfen, sonst wär‘s teuer geworden!“

Polizisten auf die Nase binden, dass ich in puncto Sicherheit nicht die hellste Kerze auf der Torte bin und mein Erste-Hilfe-Kasten nicht so gut bestückt ist, wie er von außen aussieht, hätte mich – trotz meiner Realness – eine Verwarnung gekostet.

„Real“ wäre auch wenn man in Bewerbungsschreiben schreiben könnte, was man denkt. Ich hatte in meiner früheren Funktion als Berufsberaterin einen autistischen Bewerber, dem ich einen Job verschaffen wollte. Ich bat ihn, eine Bewerbung zu schreiben. Er schrieb das wohl ehrlichste Anschreiben, das ich je sehen werde. Sätze wie „Ich würde mir mit meinem Gehalt gerne einen Urlaub und ein Haus leisten können.“ Und: „Ich bin nicht an außerbetrieblichen Aktivitäten interessiert und ziehe es vor, einfach nur zu arbeiten, ohne das soziale Beiwerk.“ Diese Ehrlichkeit war einfach erfrischend und richtig REAL. Ich musste dann dieses außerordentlich offene und ehrliche Schreiben umwandeln – fakeisieren – in eine Version des hochnäsigen Bittbriefes so wie wir es kennen: Sehr geehrte Dingsbums. Ich habe über Blabla darüber erfahren, dass sie DAS suchen. Um ehrlich zu sein – Wort wörtlich – hätte ich lieber eher das erster verschickt. Man arbeitet ja nicht nur für die Genugtuung „weil ma was geschafft hend“, sondern, weil man eben Geld braucht.

Macht dann vor diesem Hintergrund das Motto „Keep it real“ glücklich? Doch nicht wirklich, oder?  Es gleicht einem Aufruf zur Anarchie, wenn ich sage: „Tue einfach was du willst, dann wirst du glücklich.“ So einfach geht die Rechnung nicht auf. Wir sind keine Inseln. Selbst wenn wir Inseln wären – Inseln definieren sich als Sand oder Gesteinsansammlung in Gewässern. Sogar sie stehen im Bezug zu etwas. Werden sogar dadurch definiert und haben erst dann eine Identität.

Ohne Meer keine Insel. Ohne Umgebung kein Mensch. Manchmal ist es eben auch benötigt, eine Rolle zu spielen, um sich seine Umwelt gewogen zu stimmen. Mich zum Beispiel macht es glücklich, wenn ich andere glücklich sehe.

Also JA, ich schauspielere und bin auch – und das gebe ich widerstrebend zu – ganz gut darin. Ich jongliere gerne mit meinen Facetten, denn damit lote ich meine unterschiedlichen Persönlichkeiten aus. Mein Mosaik an Realitäten.

Apropos Persönlichkeiten. Was mich noch zum Nachdenken brachte, war eine These einer Psychologin mit der ich angeregt über Partnerfindung redete. Ich fand nämlich keinen. Ich stellte ihr die Frage: Was war zuerst da – mein Singledasein oder meine Cat-Lady-Identität? Ich hoffte auf ein Feuerwerk an Thesen aus der Kategorie Ratgeber. So wie meine Freunde es taten: „Mach doch mal was aus dir!“, „Setze mal deine Anforderungen runter“, „Sei natürlich, aber total gepflegt… Und sei bloß nicht witziger als er“, „Geh mehr aus“. Mein Typisch-Single-Frau-Kater Toni schaute mich schon ganz vorwurfsvoll an, weil ich kaum noch zu Hause war. Statt Fell durchzukraulen, kraulte ich meine Haare und meinen Teint mit pflegendem Arganöl.  Auch mit meiner Kriegsbemalung á la „Weil ich es mir Wert bin“ kann ich mich immer noch nicht anfreunden, aber hey: „Es geht um Fortpflanzung. Um den Bestand der und vor allem MEINER Spezies.“ Türkische Singleine mit 33 Jahren. Huihuihui. Du traust dich was, Funda.

Zurück zur Psychologin: Kaum hatte ich ihr schwelgend in meiner Rolle als leidgeprüfte Dauersingleöse mein Leid geklagt, kam was ganz Unverhofftes. Kein Wort des Mitgefühls, sondern: „Liebe sehe ich sowieso als eine Form der gesellschaftlich gewollten Psychose.“ Rums. Einfach so.

War Psychose denn keine Krankheit? Etwas, das mit Realitätsverlust einherging. Tja, stimmt. Als realistisch schätze ich den verliebten Zustand nun wirklich nicht ein. Vielmehr malt es vieles rosa, was eigentlich schwarze Knicke in der Optik sind. Und damit meine ich nicht nur das Aussehen. Ich erinnere mich daran, wie Freunde von ihren Partnern redeten und ich dann an den Moment, in dem ich sie traf „Ist doch ein ganz normaler Typ“ dachte. Meine türkische Erziehung kam mir auch hier wieder zur Hilfe. Ich erinnerte mich an eine Geschichte, die mir mein Vater erzählte, von den Liebenden Leyla und Mecnun. Mecnun sah Leyla und verliebt sich in sie, er sprach in den höchsten Tönen von ihren rosigen Wangen, ihrer zarten Stimme, der wahren Lebensfreude, die sie umhüllte und ihren tiefblickenden Augen. Er wollte sie zur Frau. Die Dorfältesten gingen in das Nachbardorf um sich diese Schönheit anzusehen – und wurden enttäuscht.

Sie gingen zurück zu Mecnun und sagten: „Mecnun, diese Leyla ist dürr wie ein verdorrter Ast und sie hat ja eine Hakennase. Was findest du denn ihr bitte schön? Wir finden was Besseres für dich.“ Mecnun entgegnete: „Ihr sollte sie durch meine Augen sehen. Wenn das Herz liebt, blicken deine Augen voller Liebe.“ Als Pragmatiker kann man tatsächlich von einer „Wahrnehmungsstörung“ reden. Aber es ist gewünscht. Verliebe dich und werde glücklich. Manche trainieren diese Wahrnehmungsverzerrungen ja regelrecht. Heute nennt man das Meditieren oder Traumreise. Begib dich innerlich an einen Ort der Ruhe, des Friedens. Wer Krieg und Mord erlebt hat, dem erscheint die „Matrix“ durchaus als Heilung. Wir entrücken uns bewusst, um zu Überleben. Ein Baby schreit in einer Bahn, ich stecke mir Kopfhörer rein und höre mit maximaler Lautstäre entspannende Musik und wünsche mir, ich wäre zwischen Schmetterlingen und duftenden Wiese, statt auf diesem hygienisch fragwürdigen Zugsitz mit ungewünschter Geräuschkulisse.

Wir filtern gerne und der Herzchen-Rosa-Geigen-Filter ist nun mal ein schöner Filter, für manche auch eine gewollte Psychose, die sie willkommen heißen.  Denn um noch ein paar weitere aneckende Thesen in den Raum zu werfen: „Neurotik ist die neue Erotik“ und „Der Makel ist die neue Perfektion.“ Ihr seid dran mit Aufregen und Realitätscheck. Auf die Plätze, Fertig und los.

Funda Doğhan

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