Stück Erde

Ich lief meinen gewohnten Weg, Schritt für Schritt fortwährend denselben Weg entlang. Täglich aufs Neue. Wie oft stellte ich wohl auf exakt das gleiche Stück Erde meinen Fuß ab? Wie oft trat ich wohl auf ein paar Zentimeter der gleichen Erde?

Ich wurde schlagartig aus meinen Gedanken gerissen, denn da saß sie – Eine Frau in Tücher gehüllt, kniend und barfuß auf einem Stück Gehweg, einem Stück Erde. Die Tücher groß, wuchtig, tief schwarz. Sie hingen an ihrem schmalen Körper von jeder Seite wie ausgewickelte Stoffballen hinab. Lediglich der braune nackte Fuß, mit alter, mitgenommener Haut sprang ins Auge. Die Hände gestikulieren mit einer geübten Leichtigkeit und sie schweben in sanften, nostalgischen Erinnerungen. Neben ihr ein kleiner Junge in zu große Jeans und ein zu großes Shirt verkleidet. Vor ihnen ein Tuch, in dem, vom Baum nebenan hinabgefallene, Walnüsse liegen. Sie erklärt, zeigt und erzählt. Sie legt das Tuch um und setzt auf Schulterhöhe den Hammer zum Schlag aus – ein lautes Krachen. Der Junge schreckt zurück beobachtet gleichzeitig gespannt die Frau, um ihren nächsten Schritt einschätzen zu können. Sie erklärt, zeigt und erzählt. Die nun nicht mehr so hügelige Oberfläche des Tuchs lässt bereits auf ihre Formänderung schließen – sie sind zerschlagen.

Ich schließe meine Augen und glaube die alte Frau als junges Mädchen auf einem Stück Erde, unter einem großen Schatten spendenden Haselnussbaum zu erkennen. Umhüllt von heißer trockener Luft, feucht modriger Erde und einer frischen Kühle des einsamen Windhauches. Nicht auf einem Gehweg – auf einem Sandweg, der leuchtend gelb in der heißen Sonne funkelt. Nicht in schwarze Tücher gehüllt – in helle, die ihrer braunen Haut strahlende Leuchtkraft geben. Nicht nostalgisch und erinnernd – gespannt und erlebend. Nicht erzählend – zuhörend. Sie in der Position des kleinen Jungen, vor ihr eine ältere, Ruhe und Geborgenheit ausstrahlende Frau. Sie greift gespannt zu den zerschlagenen Haselnüssen und lässt die Hand über ihre Oberfläche gleiten – sie pickt eine heraus und führt sie mit einem freudigen, erregten Blick zu ihrem Mund.

Ich öffne meine Augen und glaube sie nun wirklich zu erkennen. Sie erklärt, zeigt und erzählt. Die beiden sind wie ein Mosaik, das in einem fremden, zerschlagenen Land herausgeschnitten und in der neuen Fremde eingesetzt wurde. Einfach eingesetzt und sich selbst überlassen. Von Forderungen überschüttet, zur Veränderung gedrängt. Sie, in der Fremde gefangen mit bloß ihren Körpern und ihren Erlebnissen als der letzten Verbindung zu ihrer heimischen Fremde. Sie legt das Tuch um und der kleine Junge schaut aufgeregt hinein. Zögerlich lässt er die Fingerspitzen über die zerschlagenen Nüsse fahren. Die Frau ermutigt ihn das Zerschlagene näher zu betrachten. Sie erklärt, zeigt und erzählt. Er schaut mit großen gespannten Kindesaugen auf sie und scheint vor Aufregung fast zu platzen. Er greift zu einer der Walnüsse und führt sie langsam zum Mund. Sie erklärt, zeigt und erzählt. Er horcht ihren Worten und scheint die ferne Heimat zu schmecken, zu ertasten und zu empfinden. Ihr Blick ist liebevoll erinnernd und seiner vor Liebe und Stolz trotzend. Sie fährt mit ihrer erinnernden, älter gewordenen Hand über sein kleines Gesicht. Sie war seine lebende Erinnerung des Vergessenen.

Ob ich jemals das gleiche Stück Erde mit meiner Sohle erwische? Das schien in diesem Moment unwichtig zu sein.

Scarlett Rybarczyk

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