Double Standards

„Der geht auf mich.“

Der hübsche Junge hinter der Bar zwinkert ihr aus eisblauen Augen zu, als er den Gin Tonic vor ihr abstellt.

Sie lächelt ihn strahlend an, freut sich über die Aufmerksamkeit und streicht ihr T-Shirt glatt, bevor sie sich auf dem Hocker vor der Theke niederlässt und nach dem Drink greift. Die Aufschrift darauf wird durch ihre lange Haarmähne verdeckt, und man muss ein bisschen zu lang auf ihre Brüste starren, um die Schrift entziffern zu können. Ask me about my feminist agenda. Sie fand es witzig, damals auf der Uni. Sie hatte Spaß daran, sich in irgendeiner Studentenkneipe mit Halbwüchsigen in eine Diskussion über Sexismus, Frauenrechte und all die verheerenden Folgen von Feminismus zu stürzen.

Das Oberteil ist weit geschnitten, aber es verdeckt nicht ganz den Bauch, der sich nach der Schwangerschaft noch nicht ganz zurückgebildet hat.

Wenn sie sich ein bisschen zu lange umschaut und den Leuten in die fröhlich angetrunkenen Gesichter blickt, kann sie ihre Gedanken förmlich bis hierher spüren.

 Was ist das denn für eine Mutter, die ihr Neugeborenes zurücklässt, um mit Freundinnen um die Häuser zu ziehen und sich zu betrinken?

Überhaupt, was soll dieser knappe Rock und die Netzstrumpfhose? Was wird aus dem Kind werden, wenn die Mutter schon so herumläuft? Wie kann der Vater das zulassen?

 Wenn sie ehrlich zu sich ist, sind es ihre eigenen Gedanken, die ihr diese Fragen zuflüstern. Dass sie die Kleine übers Wochenende zu David gebracht hat und das hier der erste freie Abend seit Monaten für sie ist, spielt keine Rolle. Auch nicht, dass er des Öfteren mit Laura in die Kiste geht, die zwanzigjährige Blonde aus seiner Marketingabteilung.

Der Barkeeper scheint nichts gemerkt zu haben, er schenkt weitere Getränke ein und wirft ihr immer wieder einen anzüglichen Blick zu. Erst fühlt sie sich geschmeichelt, dann erklingt wieder die Stimme in ihrem Kopf.

Ach, und jetzt will sie sich von diesem mittellosen Kerl abschleppen lassen, der kaum halb so alt wie sie ist? Hat sie denn kein bisschen Würde?

Ohne darüber nachzudenken, zückt sie ihr Portemonnaie und zieht einen Schein hervor, den sie ihm hinhält. Er runzelt die Stirn, aber sie weicht seinem Blick aus.

„Ich bestehe drauf.“

Erleichterung durchflutet sie, als er danach greift. Wie konnte sie sich auch nur für einen Moment gehen lassen? Sie weiß doch ganz genau, wie es abläuft.

Wenn der Kerl zahlt, nimmst du ihn mit nach Hause. Wenn du ihn nicht mit nach Hause nimmst, bist du ein undankbares Gör, das seine Zeit und sein Geld verschwendet hat. Wenn du allerdings zu oft einen Kerl mit nach Hause nimmst, bist du eine Schlampe, also pass bloß auf, von wem du dir einen Drink ausgeben lässt und wie viele Leute dir dabei zusehen.

 Diese Logik hatte sich ihr nie ganz erschlossen, auch wenn alle Mädchen, mit denen sie in ihrer Studienzeit feiern gewesen war, sich an diesen seltsamen Codex gehalten hatten – sie eingeschlossen. Als David sie in der Bahn angesprochen hatte und später klargeworden war, dass es etwas Längerfristiges werden sollte, war sie unendlich dankbar gewesen, diesen ungeschriebenen Dating-Regeln entkommen zu können.

Und jetzt saß sie wieder hier, zehn Jahre Ehe hinter sich und kein Stück weiter an dieser Front, während er eine Frau nach der anderen in sein Bett einlud, ohne sich auch nur im Geringsten dafür rechtfertigen zu müssen.

Die Ladenglocke klingelt und ihre Freundin eilt auf sie zu, gerötete Wangen und ein sensationsgeiles Glänzen in den Augen. „Hey Süße, toll siehst du aus!“ Ihre Umarmung zieht sie in eine Parfümwolke. „Du wirst nicht glauben, wen ich gerade gesehen habe! Vicky, unsere ewige Single-Nachbarin, kam doch tatsächlich schon wieder mit einem anderen Typen aus der Wohnung, als ich gegangen bin. Ich meine, kein Wunder, dass sie nie etwas Ernsthaftes hat – welcher Mann möchte schon eine Frau haben, die jede Nacht einen anderen ranlässt?“

Mina Mart

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